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Rede
23.11.2006 – Volker Schneider
Bundesregierung setzt im Bildungsbereich allein auf die ökonomische Verwertbarkeit von Bildung

Statt soziale Gegensätze auszugleichen, ist das deutsche Bildungssystem in hohem Maße sozial selektiv!

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Haushalt 2007 verzeichnet im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gegenüber 2006 einen Zuwachs von 500 Millionen Euro. Das ist ein in absoluten Zahlen vergleichsweise bescheidener Betrag. Aber es ist immerhin eine Steigerung um 6,2 Prozent.

Ich will gerne dem Wunsch des Kollegen Willsch aus der ersten Haushaltsrunde nachkommen – es wäre gut, wenn er jetzt zuhören würde – und ihm bestätigen, dass auch meine Fraktion mit der Regierungskoalition in der Frage übereinstimmt, dass wir für Bildung und Forschung mehr tun müssen. Ich will noch hinzufügen, dass dieser Haushalt in diesem Punkt einen Anfang macht. – Das hat der Kollege Willsch jetzt leider nicht gehört.

(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])

Nun ist Quantität ein Aspekt, Qualität aber ein völlig anderer. Es wird Sie nicht überraschen, dass wir in diesem Punkt nicht mehr ganz so positiv über diesen Haushalt urteilen können.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das überrascht uns sehr!)

– Das ist aber erstaunlich.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Es ist nämlich ein hervorragender Haushalt!)

Bildung ist aus der Sicht der Linken nicht nur unter dem Aspekt der ökonomischen Verwertbarkeit und damit der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes zu betrachten. Bildung ist für meine Fraktion ein individuelles Grundrecht, ableitbar aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, also aus Art. 2 des Grundgesetzes. Bildung hat eine ganz wesentliche Funktion im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot in Art. 20 Grundgesetz, jedenfalls soweit das Bundesverfassungsgericht den Staat in seinem Urteil vom 18. Juli 1967 verpflichtet, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.

(Beifall bei der LINKEN)

Statt soziale Gegensätze auszugleichen, ist das deutsche Bildungssystem in hohem Maße sozial selektiv. Das benachteiligt gerade diejenigen am meisten, für die das Sozialstaatsgebot eine Hoffnung sein könnte. Statt eines Ausgleichs stehen Verlierer und Gewinner dieses Systems in der Regel schon bei Eintritt in dieses System fest.

Ich erspare Ihnen, anhand internationaler Vergleichsstatistiken aufzuzeigen, welchen Umfang soziale Selektivität in unserem Bildungswesen angenommen hat. Die Fakten sollten Ihnen längst bekannt sein. Ich muss nicht zusätzliches Salz in diese Wunde streuen. Ich will Ihnen stattdessen etwas von einer jungen Frau erzählen, die ich im Rahmen meiner Wahlkreisarbeit in Saarbrücken kennen gelernt habe. Keine Angst, es ist keiner dieser Fälle, in denen alles Leid dieser Welt auf einmal zusammenkommt. Es ist vielmehr ein ganz typischer Fall einer jungen Frau. Gerade weil er so typisch ist, sagt er vielleicht etwas über die Situation im Bildungswesen aus.

Diese junge Frau – ich will sie hier einmal Rita nennen – hat im Mai dieses Jahres ihr Abitur gemacht.

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ist jetzt Märchenstunde, oder was?)

Dies ist nicht gerade typisch, kommt sie doch aus einfachen Verhältnissen. Sie gehört also dem Personenkreis an, den Sozialwissenschaftler gern als bildungsferne Schichten bezeichnen. Ihre fünf und sieben Jahre älteren Brüder haben Gleiches nicht geschafft. Bei ihnen hat es „nur“ zum Realschulabschluss gereicht.

Rita meint, sie habe im Vergleich zu ihren Brüdern nur Glück gehabt; sie habe beispielsweise den Kindergarten besuchen können. Bei ihren Brüdern fehlte dafür das Geld, weil die Eltern zu diesem Zeitpunkt ein kleines Haus gekauft hatten. Ich denke, Rita schätzt die vorschulische Erziehung in Deutschland etwas zu hoch ein. Kein Land in Europa – von Österreich einmal abgesehen – leistet sich auf einem ähnlich niedrigen Niveau ausgebildete Betreuungspersonen. Bei vorschulischer Bildung und kompensatorischen Angeboten wie Sprachförderung für die Kinder von Migranten besteht weitgehend Fehlanzeige. Für diese Jahre, in denen Startchancen verteilt werden, gibt dieses Land erschreckend wenig aus. Das gilt nicht nur für Kindertageseinrichtungen, sondern leider genauso für Grundschulen. Rita hat es dennoch geschafft. Obwohl ihr Elternhaus sie praktisch nicht fördert und der Stolz ihrer Eltern ihr bereits dann sicher ist, wenn sie Jahr für Jahr versetzt wird, entwickelt sie mit 16 plötzlich einen besonderen Ehrgeiz; denn sie will Tierärztin werden. Sie weiß, in der Tiermedizin kommen auf einen Studienplatz fünf Bewerber.

Das heißt, es gibt einen Numerus clausus von 1,0. Sie macht einen großen Sprung nach vorne und schafft einen Notendurchschnitt von 1,6. Für sie ist dies sehr viel; aber es ist zu wenig für die Aufnahme eines solchen Studiums.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse)

Das Bundesverfassungsgericht hat aus Art. 12 Grundgesetz in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht aller Studienberechtigten auf Zulassung zum Hochschulstudium ihrer Wahl abgeleitet. Auch wenn im Rahmen dieses Urteils gleichzeitig die Wirksamkeit dieses Rechts eingeschränkt wurde, hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber in das Stammbuch geschrieben, dass Zulassungsbeschränkungen nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig sind.

Hat der Gesetzgeber wirklich alles Notwendige getan, um Zulassungsbeschränkungen zu vermeiden? Reicht der Hochschulpakt aus, um den in den nächsten Jahren absehbaren zusätzlichen Bedarf zu decken? Unserem dazu vorliegenden Änderungsantrag entnehmen Sie, warum die Linke diese Fragen verneint.

Rita will jetzt ihre Wartezeit sinnvoll überbrücken. Sie hat eine Lehre als Tierpflegerin begonnen. Aus ihrer Sicht ist das ganz sinnvoll; für den Ausbildungsmarkt ist es verheerend. Rita und andere Abiturienten aus ihrem Milieu wandern in die Ausbildung ab, nicht nur wegen der Wartezeiten, sondern auch deswegen, weil sie glauben, sich ein Studium nicht mehr leisten zu können. Das BAföG wurde zuletzt 2001 angepasst. Seitdem sinkt die Zahl der Anspruchsberechtigten. 70 Prozent der Studierenden müssen neben ihrem Studium arbeiten. Nur noch 1 Prozent finanziert sich voll aus BAföG. Studiengebühren tun ein Übriges. In NRW sank die Zahl der Studienanfänger nach Einführung der Studiengebühren insgesamt um 5,3 Prozent – da rückt Ihr 40-Prozent-Ziel in weite Ferne –, obwohl an den Hochschulen, die auf eine Einführung der Gebühren verzichtet hatten – das ist ja in NRW möglich –, die Zahl der Bewerbungen um bis zu 40 Prozent stieg.

Abiturienten drängen stattdessen auf den Lehrstellenmarkt – Anstieg 4 Prozent, bei Fachabiturienten sogar satte 20 Prozent. Sie verdrängen andere Jugendliche nicht nur aus den Lehrstellen; nein, selbst das Einstiegsqualifizierungsjahr wird leider auch von diesen Personen in Anspruch genommen.

(Jörg Tauss [SPD]: Die Zahlen brauche ich, ich habe mit Herrn Schauerte gewettet!)

– Bekommen Sie gleich von mir. Leider sehe ich an dem Blinken der Uhr, dass mir keine Zeit mehr bleibt, auf die Weiterbildung einzugehen. Da befinde ich mich in guter Gesellschaft; denn in der letzten Runde hat keiner aus der großen Koalition, obwohl Sie deutlich mehr Redezeit haben, auch nur einen Satz zur Weiterbildung gesagt.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Ja. – Ihre Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen der großen Koalition, konzentriert sich nur sehr wenig auf die angerissenen Probleme. Sie haben Exzellenz und Spitze im Auge, nicht die Breite. Insofern können wir Ihrem Haushaltsentwurf nicht zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN)